Jetzt kann mit dem Schnitt begonnen werden. Als ich im Februar zu dem Projekt
vom Sommer 2008 zurückkehrte und die acht Stunden Videofilm, die ich in Palmyra gedreht hatte,
auf den Rechner überspielte, wollte ich noch den ursprünglichen Plan verwirklichen und
meine persönliche Erfahrung einer Landschaft gestalten, die mich tief durch eine bizarre Gegenwart
von Vergangenheit beeindruckt hatte. Ich wollte Palmyra als eine Oase porträtieren, in der arme Syrer
von antiken Ruinen leben, die die Kraft besitzen, ihnen europäische Touristen zuzuführen.
Natürlich hatte ich in den vergangenen Jahren die Literatur über Palmyra gelesen, so weit
ich sie neu oder antiquarisch finden konnte; dazu Stiche und Fotos gesammelt, mit denen
sich meine Momentaufnahmen in die Tiefe der Zeit verlängern lassen.
Aber der 20. Mai änderte alles.
An diesem Tag eroberten Kämpfer von ISIS die Stadt Tadmor und errichteten dort eine
Gewaltherrschaft, der viele unschuldige Menschen und einige Tempel und Grabtürme von
Palmyra zum Opfer fielen. Wie konnte ich da noch einen Film machen, dessen Akteure vielleicht
irgendwo im Flüchtlingsstrom trieben und dessen Hauptmotive gesprengt waren?
Das Drehbuch, von dem ich nun ausgehe, reagiert auf die jüngste Geschichte, indem es an ihr
einen Kulturbegriff testet, der nicht mehr vom Besitz irgendwelcher materiellen Kulturgüter ausgeht.
Die radikalen Islamisten haben ja völlig recht, wenn sie uns vorwerfen, daß unser Wertesystem
ausgehöhlt ist und wir nur in Worten noch eine christliche Kultur besitzen, an deren geistiges und
ethisches Zentrum, den auferstandenen Gottessohn, die meisten von uns nicht glauben können.
Wenn aber nicht das Christentum unser Handeln begründet, was dann? Die Vernunft etwa,
die seit der französischen Aufklärung eine vielfarbige ideologische Karriere durchlebt hat?
Ich glaube, wir müssen bescheidener werden und zu Kategorien der Menschlichkeit zurückfinden,
die so elementar und universal sind, daß sie keinerlei Herrschaftsform rechtfertigen. Macht und
Machtausübung sollten nur konkret verhandelt, nie weltanschaulich legitimiert werden.
Mein Filmessay kann die ernsten Fragen, die der gegenwärtige Kulturkrieg aufwirft, nicht
behandeln. Aber ich habe sie seit diesem Mai im Hinterkopf, und ich möchte den Film so
gestalten, daß sie seinem Zuschauer beim Verlassen des Kinosaals selbst kommen.